US-Roots-Musiklegende Geoff Muldaur rief und alle kamen ihm zur Seite: Stephen Bruton (†), Johnny Nicholas, Cindy Cashdollar, Suzy Thompson, Bruce Hughes und – als besonderer Gast – Jugband Music-Mann Jim Kweskin. Die Goldene Ära der traditionellen amerikanischen Musik reflektierend, wurden die “Texas Sheiks“-Sessions in Austin zu einem einmaligen und bewegenden Event mit unwiderstehlichen – auch seltenen – Perlen aus dem großen alten Blues-, Stringband-, Texas Swing und Jumpblues-Repertoire. Gesungen und gespielt mit meisterlicher Expertise, großer Autorität und einnehmender Freude. Eine dem „O Brother“-Klassiker des amerikanischen Oldtime-Music-Revivals in nichts nachstehende Kollektion amerikanischer „modernistischer Klassik“ (T-Bone Burnett). Eine Feier des Lebens.
„My crazy little projects“ – so bezeichnet Rootsmusik-Legende Geoff Muldaur seine musikalische Arbeit gern augenzwinkernd. Mit einer gehörigen Portion Understatement verschleiert der heute wieder sehr aktive Bluesmann Muldaur damit die Einzigartigkeit und Bedeutung dieser Arbeit für das zunehmend „erinnerungslose“ 21. Jahrhundert. Geoff Muldaur ist noch immer ein Mann für das Besondere. Individuelles Wissen und Fertigkeit qualifizieren ihn wie nur wenige andere zum Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zum Gralshüter musikalischer Traditionen, die nur von wenigen so intensiv kanalisiert und mit neuem Leben erfüllt werden. Im Fall des Projekts TEXAS SHEIKS darüber hinaus auch angetrieben von sehr persönlicher Motiven, beseelt von einem geradezu brüderlichen Geist. Fast wie vor einem knappen halben Jahrhundert…
Wie viele weiße amerikanische Kinder der Mittelschicht war auch der in Pelham, New York, geborene Geoff Muldaur früh mit einem ansteckenden Bazillus infiziert. Einem Virus, der ihn und seine Freunde weit zurücktrug in die Geschichte der amerikanischen Musik – in die Frühzeit von Blues, Jazz, und Folk-Tradition. Zu geheimnisvollen Figuren, deren markante Stimmen von alten Schellackplatten durch die Jahrzehnte kamen, mit einer das ganze weitere Leben prägenden Wirkung. Der exzentrische Künstler und Sammler Harry Smith hatte viele dieser ominösen Stimmen auf seiner 1952 erschienenen „Anthology Of American Folk Music“ für das Folkways-Label dokumentiert. Wie eine geheime Bruderschaft spürten nun junge Enthusiasten wie Muldaur in nachfolgender Generation diesen Stimmen nach. Auch auf eigenen Reisen in den tiefen Süden, wo sie eine mythische Welt entdeckten, die der Kritiker Greil Marcus später als „The Old, Weird America“ beschreiben sollte. Ein nachhaltiges kulturelles Erbe, das neue Identität stiftete. Ein emotional authentisches Amerika fernab der Konsum verherrlichenden Plastikversion der US-Massenmedien in den fünfziger und sechziger Jahren. Geoff Muldaur haben diese Entdeckungen und Inspirationen ein ganzes Musikerleben beschäftigt – mit der Jim Kweskin Jugband in der jungen Hipster-Szene von Cambridge, Mass., als Teil der Szene von Woodstock, mit zahlreichen Projekten der Folgejahre bis in die Gegenwart, als nunmehr elder statesman der amerikanischen roots music. Doch zurück in die Gegenwart – und wilkommen in „Sheiksville“. It’s a great place to be.
Anfang 2008 fassten Geoff Muldaur und sein Freund, der Produzent und Instrumentenbauer Roger Kasle, einen positiven Entschluss vor traurigem Hintergrund. Seit geraumer Zeit kämpfte ihr Freund, der großartige texanische Gitarrist, Songwriter und Sänger Stephen Bruton gegen eine Krebserkrankung. Gemeinsam wollte man für und mit Stephen Bruton – einem wandelnden Lexikon der texanischen Musik und allseits geschätztem Musikerfreund – ein Signal setzen. Einige geschätzte Kollegen zu Sessions in Brutons Stadt Austin, Texas, zusammentrommeln. Kollegen, die sich wie Bruton selbst im Repertoire der alten Bluesleute und musikalischen Ahnen bewegen wie in einer zweiten Heimat. Akustische Musik aus dem tiefen Süden – Mississippi, Louisiana, Texas – Songs aus der Tradition: string band music, country blues, jump blues, Texas swing. Geoff Muldaur rief und sie kamen: Stephen Bruton (Texas – Gitarre/Mandoline/Gesang – Kris Kristofferson, Bonnie Raitt, T-Bone Burnett, Delbert McClinton); Johnny Nicholas (Rhode Island – Gesang / Gitarre / Harp, Asleep At The Wheel), Cindy Cashdollar (Texas – National / Steel Guitar / Dobro – Rick Danko, Levon Helm, Paul Butterfield, Asleep At The Wheel, Bob Dylan, Van Morrison…); Suzy Thompson (Kalifornien – Fiddle / Akkordeon – Bay Area old time scene), Bruce Hughes (Texas – Bass / Gesang – Resentments, Poi Dog Pondering, Jason Mraz…). Dazu “guest sheik” emeritus: Jim Kweskin, Gesang, Gitarre. Und nicht zu vergessen „head sheik“ Geoff Muldaur (Gesang / Gitarre / 6-string-banjo).
Warum TEXAS SHEIKS? Die Antwort führt zurück in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: Rudolph Valentino wird 1921 im Film “The Sheik” zum neuen Prototyp des scharfen Verführers. Man sieht ihn nicht nur auf Leinwänden in Los Angeles und New York – auch im ländlichen Mississippi, wo sich schwarze String Bands mit sehr heterogenem Repertoire um die Gunst des weißen und schwarzen Publikums bemühen. Vor allem zwei dieser Bands sind in die Geschichtsschreibung eingegangen: die Beale Street Sheiks um den Bluesmann, Songster und Vater des Memphis Blues Frank Stokes – sowie die Mississippi Sheiks um die Familie Chatmon. Bis Mitte der 1930er Jahre waren vor allem letztere äußerst populär, nicht nur im Tiefen Süden der USA. Songs aus ihrem Repertoire findet man natürlich auch bei den TEXAS SHEIKS – legitime Nachfolger in einer besonderen Ahnenreihe, keine Frage…
String Band Music – das ist heute eine Art Subgenre amerikanischer „Oldtime Music“, gespielt mit überschaubarem, meist akustischem, Saiten-Instrumentarium. Fiddle und Banjo dabei die ältesten Vertreter, mit vielerlei Bezügen zur tiefen amerikanischen Musiktradition – von den afroamerikanischen Pionieren des 19. Jahrhunderts bis zu weißen Country- und Bluegrass-Ensembles der Folgezeit. „Old time music“ – in den USA heute beileibe kein Genre nur für das konservative Element der Gesellschaft. Seit dem „O Brother…“-Kino-Phänomen und der damit einhergehenden Renaissance amerikanischer Folk-Spielarten der 1920er und 1930er Jahre ist „old-time“ cool auch bei jungen Leuten. Zahllose brillante junge String Bands spielen heute in amerikanischen Clubs und auf Festivals. Mit einem Repertoire, dessen Ursprünge Musikethnologen bisweilen durchaus bis zu den Griots Westafrikas oder in die Karibik zurückverfolgen können. Der Folk-Prozess ist auch im Globalen Dorf lebendig.
Das Repertoire der Mississippi Sheiks kannte keine Trennung von Schwarz und Weiß. Blues stand neben Vaudeville, weiße Countrysongs neben schwarzem Songster-Repertoire. Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte der amerikanischen Musik. „Das Aufbegehren gegen die Routine war das Hauptanliegen der Mississippi Sheiks,“ schrieb Bob Dylan über seine Wahrnehmung der von ihm verehrten Gruppe um die Brüder Chatmon.
„I can’t be good no more / Like I did before / I can’t be good, baby / Because the world’s gone wrong“ – mit einem der Songklassiker der Mississippi Sheiks geht es gleich im ersten Track des Albums hinein in die Welt des „Alten Unheimlichen Amerika“. Einst gesungen von den Ur-Sheiks und von Dylan, nun auch von Muldaur, mit der ihm eigenen Mischung aus Distanz und Leidenschaft. Eine magische Stimme mit singulärem Ansatz – immer noch. Doch Geoff Muldaur ist nicht der einzige Vokalist der TEXAS SHEIKS: man hört auch die großartigen Stimmen von Johnny Nicholas und Stephen Bruton. Abwechslungsreichtum ist eine der Qualitäten dieses Albums und – ganz das historische Prinzip der Sheiks – keine Trennung der Traditionslinien nach schwarz und weiß wird spürbar.
Die TEXAS SHEIKS kommen auf vieles zurück: auf Big Bill Broonzy & Washboard Sam, den Jugband-Pionier Gus Cannon, Western Swingmeister Bob Wills & His Texas Playboys, Delta Blueslegende Skip James, die Beale Street Sheiks, Frank Stokes und Robert Johnson. Doch besonderes Vergnügen bereitet ein dem Album inne wohnendes Obskuritäten-Songkabinett: „Blues In The Bottle“ – der 1928er Pioniersong des Western Swing Genres von Prince Albert Hunt’s Texas Ramblers. „Don’t Sell It“ – Don’t Give It Away“ – ein 1937er Meilenstein der Stringband-Historie von Buddy Woods & The Wampus Cats, dem ersten gemischtrassigen Ensemble des Genres. Dazu „Under The Chicken Tree“ – ein 1927er Beispiel der Songster-Tradition von Earl McDonald’s Original Louisville Jug Band. Der 1929er „Cairo Blues“ des obskuren Countryblues-Sängers Henry Spaulding. Doch das ist immer noch nicht alles. Zum Ende der Zeitreise zieht die „Yellow Dog“-Eisenbahn durch das „Alte Unheimliche Amerika“. “I’m going where the Southern crosses the Dog…” – an einer mythischen Kreuzung zweier Bahngleise im tiefen Mississippi beginnt dieser Blues von W.C. Handy. Komponiert im Jahr 1915 und ein Eckpfeiler des traditionellen Jazzrepertoires. Jetzt in der Interpretation der TEXAS SHEIKS schöner Ausklang eines besonderen Albums, konkreter Abschluss und potentielles Kontinuum gleichermaßen. Wie die Bücherstütze eines zeitlosen Song-Kompendiums. Musik aus „Sheiksville“ – ein Ort der Erinnerung und der Feier des Lebens. Aus einem alten Amerika, das bei den TEXAS SHEIKS sehr freundlich klingt: Einladend, freudig, beseelt von einem Geist der Freundschaft, geprägt von virtuosem Musikantentum. Willkommen abermals in “Sheiksville” also – it’s a great place to be.
Der texanische Meistermusiker Stephen Bruton starb am 9. Mai 2009 im Alter von sechzig Jahren im Haus seines Freundes T-Bone Burnett in Los Angeles. Mit ihm hatte er noch eine letzte Filmmusik-Arbeit fertig stellen können. Neben jener ist TEXAS SHEIKS das letzte Projekt, das Stephen Bruton in seinem Leben realisieren konnte. Für seinen Freund Geoff Muldaur war es „… one of the most enjoyable times we have ever had in the recording studio.“