Auf ihrem zweiten Album für Europa präsentiert die Sängerin, Pianistin und Songwriterin mit Wahlheimat New Orleans eine konsequente und gänzlich klischeefreie Weiterentwicklung ihres Stils. Unterstützt vom New Yorker Violinexperten Zach Brown und „The Magic Number“, entwirft der Freigeist Stephanie Nilles abermals ein schillerndes musikalisch-poetisches Kaleidoskop für die Gegenwart. Ein künstlerisches Universum mit viel handwerklichem Können und „attitude“: einer rebellischen Haltung, die Bezug nimmt auf eine Vielzahl persönlicher und gesellschaftspolitischer Themen. Inspiriert sowohl von alter Musik aus New Orleans, Waits und Allison, wie auch von einem – keinesfalls humorfreien – Punk-Ethos á la DiFranco. Das künstlerische Statement einer erklärten Nonkonformistin, geprägt von kompromisslosem Freiheitswillen und einem ganz eigenen persönlichen Ausdruck.
Das neue Album von Stephanie Nilles ist da. Nach dem faszinierenden „Fuck Off, Grizzly Bear“ (T & M 050, 2011) und dem damit verbundenen Debut der Sängerin, Songwriterin und Pianistin aus New Orleans in Europa, nun also „….Takes A Big Ship“. Eingespielt mit einer kleinen Schar befreundeter Musiker: dem Jazz-Violinisten Zach Brock und „The Magic Number“ (Matt Wigton/Bass, Frederick Kennedy/Schlagzeug). Allesamt Musiker aus New York, wo das neue Album auch produziert wurde. „…. Takes A Big Ship“ – ein großes Schiff zu besteigen in rauer See (siehe Innencover): ein Bild des Wagemuts und der Risikofreude. Zwei Attribute, die Stephanie Nilles zweifelsfrei auszeichnen, und das in mehrfacher Hinsicht: ein klarer Blick auf die gesellschaftspolitische (amerikanische) Gegenwart, Klartext auch in der Sprache und Wortwahl, keine Angst vor großen Themen und (Song-)Vorlagen – dazu viel handwerkliche Brillanz und musikalische Leidenschaft. Damit auch mal Schiffbruch zu erleiden (siehe CD-Aufdruck) gehört zum Berufsrisiko nicht nur von Künstlern. Den Kopf dennoch oben zu behalten ist allerdings eine Aufgabe, bei der die neuen Songs von Stephanie Nilles wertvolle Hilfestellung leisten können.
Als eine der „fesselndsten Jazzpiano- und Loungepunk-Künstlerinnen seit Tom Waits“ wurde sie in der Vergangenheit bezeichnet. Das gilt immer noch, denn das Zusammentreffen klassischen Jazz-Hipstertums à la Mose Allison mit aktueller Rebellen-Intellektualität à la Ani DiFranco ist bei Stephanie Nilles prägend für das Geschehen. Waits, Allison, DiFranco – drei erklärte Einflüsse von Stephanie, die auch ihrerseits das Potential einer Inspirationsquelle für zeitgenössische Musik-Individualisten hat. Als Seelenverwandte aller freiheitsliebenden Nonkonformisten, die sich nicht von der Künstlichkeit moderner Lifestyle-Musikwelten blenden lassen und weiterhin auf authentischen persönlichen Ausdruck als Gradmesser für Qualität setzen. Die Musik von Stephanie Nilles ist in dieser Hinsicht vielschichtig und von geheimnisvoller Anziehungskraft. Wie ein phosphoreszierendes Nesseltier in tiefer See (siehe CD-Cover). Leuchtend schön, doch nicht ohne Gefahrenpotential.
Zur Erinnerung: Die Geschichte der heute 29jährigen Stephanie Nilles spielte bislang in vier (Musik-)Städten der USA: Chicago – Cleveland – New York – New Orleans. Geboren wurde sie in Wheaton/ Illinois, einem Vorort von Chicago. Musik spielte eine große Rolle in der Familie – vor allem eigenes Musizieren, als Teil der emotionalen „Grundausbildung“, wie Stephanie sagt. Alle Genres sind willkommen – von Pete Seeger bis Beatles, von Pink Floyd bis Mozart. Mit fünf Jahren beginnt Stephanie, Klavier zu spielen, später auch Cello. Sie wird klassische Musikerin und macht ein Klavierexamen am Cleveland Institute Of Music. „Ich spielte in internationalen Wettbewerben, übte allein in einem Raum sieben, acht Stunden am Tag. Doch langsam dämmerte es mir, dass ich unglücklich war,“ sagt sie heute. „Ich fühlte immer mehr, dass die Musik, die ich spielte, keinen Bezug zur Welt um mich herum hatte. Realistisch betrachtet, blickte ich auf die Erwartung dauerhafter Arbeitslosigkeit. Ich wurde es einfach leid, achtzig Prozent meiner Zeit damit zu verbringen, zweihundert Jahre alte Meisterwerke zu perfektionieren.“ Stephanie trifft als Konsequenz mit Anfang zwanzig eine konsequente Entscheidung: Sie steigt komplett aus der Musik aus.
Stephanie Nilles geht allein nach New York City, taucht ein in die alternative Musik-Szene der Stadt. Sie jobbt und besucht Clubs im East Village, hört dort die jungen Wilden der Anti-Folk-Bewegung. Sie trifft auf viele Jazzmusiker, die wie sie ehemals Klassik-Studenten waren. Die wechselhafte musikalische Qualität des Gebotenen ermutigt sie, auch eigene Texte zu vertonen. Über „poetry slams“ erfindet sie sich neu und kann ihre kreative Frustration überwinden. „Ich konnte in New York endlich meine Angst vor dem Komponieren überwinden, die in mir installiert worden war durch das jahrelange Üben klassischer Kunstwerke, von denen ich wusste, dass ich sie nie würde gut genug reproduzieren können.“ Über „open mic“-Abende findet Stephanie den Weg zurück auf die Bühne, hinein in etwas Neues, etwas Eigenes. Eine Songwriterin und Performerin wird so geboren, sie geht auf Tour und lebt dafür. Unterwegs im Auto, zu Auftritten in Bars und Clubs, in Wohnzimmern und Coffee Houses – quer durch die Vereinigten Staaten. Im Januar 2011 feiert sie ihr deutsches Live-Debut mit mehreren Auftritten beim Bremer Festival „Women In (E)-Motion“. Im Sommer 2012 und im Spätherbst kehrt sie zurück für weitere Festivalauftritte und eine Clubtour.
Die Wahlheimat der Endzwanzigerin ist heute New Orleans. Wenn sie nicht auf Tour ist – und das ist sie fast immer – genießt sie die Offenheit der Stadt und ihrer Künstlerszene. „In New Orleans sind Künstler glücklich,“ sagt Stephanie, „es ist die einzige Stadt in den Vereinigten Staaten, wo Künstler noch als Künstler überleben können.“ Ihr Land sieht sie politisch und kulturell wie einen 15jährigen Jungen – emotional unreif und mit zu wenig Würdigung historischer Musikformen. „Ich singe über das, was ich denke und lese; die Dinge, über die ich mit anderen Menschen spreche,“ sagt Stephanie, die unprätentiöse Jazzpoetin. Sie ist eine wache Person und ein politischer Mensch, dessen Neugier auch über ihre Musik ansteckend wirkt. Belehren und predigen will sie nicht, anregen und unterhalten hingegen schon. Ein Album ist für die eigenwillige Pianistin und Sängerin dabei kein heiliges Statement, eher eine Erforschung aktueller Gefühlszustände und Beobachtungen.
Die neue Song-Kollektion von Stephanie Nilles beginnt mit zwei Rückgriffen auf das alte Repertoire von New Orleans, der Wiege von Jazz und Blues. „Gimme A Pigfoot And A Bottle Of Beer“, das Original ein Song aus der letzten Plattensession der „Blues-Kaiserin“ Bessie Smith vom November 1933. Gefolgt von „Like A Stone Cast Out To Sea“, einer individuellen Ausgestaltung des legendären „St. Louis Blues“ von W.C. Handy. Zuerst ein Song über den wagemutigen Wunsch, alles herauszulassen, gefolgt von einem spätsommerlichen Blues aus der eigenen Lebensrealität. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen für weitere Vignetten aus dem Leben einer erklärten Nonkonformistin: freiheitsliebende On-The-Road-Beatnikprosa („#“ = „Numbers“), politisch-poetische Lebensphilosophie („Caution Tape“), Notizen aus dem Leben einer durstigen Seele und Bar-Hockerin („Vodka-Based Fishbowl“), dazu eine Art Schnappschuss über das Leben, die Liebe und den Tod, wie sie auch Randy Newman hätte verfassen können („Kate In The Haze Of The Rum“).
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird dem Hörer klar: die Sängerin, Songwriterin und Pianistin Stephanie Nilles ist eine Ausnahmeerscheinung in der dicht bevölkerten Welt des amerikanischen Singer-Songwritertums. Eine Individualistin, die anderes zu bieten hat als das Gros ihrer Kollegen. Nicht zuletzt im Zusammenspiel mit einem brillanten Musiker der jungen US-Jazzwelt: Zach Brock, Violin-Virtuose mit großem Zukunftspotential. Auch er ein Gradwanderer zwischen Jazz/Blues/Folk und vielem anderen mehr. Außerordentlich hier das blinde Verständnis aller Musiker, gänzlich ego-frei im Dienste der Songs und der Stimme der Hauptakteurin am Piano.
Weitere Einflüsse von Stephanie Nilles: Willie Nelson, James Brown, PJ Harvey, Nina Simone, Chavela Vargas – Hauptsache intensiv. Und die Intensität nimmt zu in der zweiten Hälfte des Albums. Zunächst mit einem musikalischen Rückgriff auf ihre Klassik-Vergangenheit und einem brillanten Kommentar zur Wettbewerbs- und Ichbezogenheits-Landschaft der modernen Popwelt („Mazurka“). Es folgt eine Karikatur der Binnenperspektive nordamerikanischer Weltsichten („Canadians Are From Canada“) sowie eine heftige Kritik verwöhnter Freizeit-Protestler („Occupymypussybitch“). Intensiver Höhepunkt: ein gänzlich nicht jugendfreier verbaler Doppelschlag gegen die frauenverachtende Natur zweier Musikwelten: der alten Jazz- und Blueswelt von New Orleans-Legende Jerry Roll Morton („Winin‘ Boy Blues“) und dem kommerziell kalkulierten Hip-Hop eines Busta Rhymes. Zum Ausklang schließlich eine trunkene Beatnik-Hymne auf die eigene Freiheitsliebe und Unabhängigkeit mit Unterstützung einer vielstimmigen Sängerschar („Ole‘ Tin Pan Joe“).
„Verpflichte Dich Deinem Handwerk und Deiner Kunst so gut wie Du kannst… und die Leute werden Notiz von Dir nehmen” – das sagte Stephanie Nilles vor einiger Zeit über sich und ihre noch junge Kunst. Dieser Vorsatz gilt noch immer – auch für dieses neue Album. Dem globalen Durcheinander mutig die Stirn zu bieten – das ist das unausgesprochene Ziel. Dem eigenen Leben so einen Sinn zu geben und die Welt musikalisch zu bereichern dabei durchaus willkommene Nebenergebnisse für alle, die dafür empfänglich sind. Zu hören und zu erleben hier und jetzt.