Auf ihrem jüngsten Album liefert die Sängerin, Pianistin und Songwriterin Stephanie Nilles ein furchtloses Update des alten Genres „Mörderballade“. Seit Jahrhunderten sind Geschichten von Gewalt und Tod ein wichtiger Teil der angloamerikanischen Songtradition. Als Subgenre findet man es in zahlreichen Varianten, verankert auch in der afroamerikanischen Musik – vom ländlichen Blues bis zum frühen Jazz aus New Orleans, der Wahlheimat dieser erklärten Nonkonformistin aus Chicago. Produziert mit einem kleinen Kreis von Musikerfreunden, in improvisierten Aufnahmesituationen und „in Echtzeit“, erzählt „Murder Ballads“ zum einen von der zeitlosen Qualität der alten „Todes-Geschichten“, nimmt dazu mutig brandaktuelle gesellschaftspolitische Themen ins Blickfeld. Ein intensives Album mit dunklen Inhalten, das ein markantes Bild einer einzigartigen Künstlerin mit Haltung liefert. Einer Musikerin von scharfer Intelligenz, leidenschaftlich und musikalisch brillant. Dazu mit genau der Art von Respektlosigkeit ausgestattet, die man als „typisch New Orleans“ bezeichnen könnte.
Auf vielen Clubbühnen in Deutschland konnte man Stephanie Nilles in den letzten Jahren live erleben – und dabei die spannende Entwicklung einer faszinierenden Künstlerin erleben. Als eine der „fesselndsten Jazzpiano- und Loungepunk-Künstlerinnen seit Tom Waits“ wurde die Sängerin, Songwriterin und Pianistin aus New Orleans bezeichnet. Und wie einige ihrer großen Inspirationen (Mose Allison, Ani DiFranco, PJ Harvey, Nina Simone, Chavela Vargas) bleibt Stephanie Nilles auch auf „Murder Ballads“ kompromisslos dem eigenen Ausdruck verpflichtet. Das Album widmet sich mit viel Intensität dem Thema „Gewalt“, spinnt dabei virtuos Bezüge zu alten Folk/Jazz/Blues-Traditionen der „Mörderballade“. Das eigene Update dieser Tradition liefert gleichzeitige einen soziopolitischen Kommentar zur amerikanischen Gegenwartsrealität. „Murder Ballads“ ist ein singuläres Album. Es weist Stephanie Nilles als eine der furchtlosesten Musikerinnen der alternativen amerikanischen Musikwelt heute aus.
Vor allem durch ihre Wahlheimat New Orleans – ohnehin Refugium vieler Nonkonformisten – wurde Stephanie Nilles zu diesem Album inspiriert. Die Stadt übt seit einigen Jahren wieder eine große Anziehungskraft für die junge Künstlerboheme aus. Es ist die einzige US-Metropole, in der man heute als alternativer Künstler wirklich überleben kann, sagt Stephanie Nilles. Außerdem biete die Stadt Geheimnisse und Tiefe in Sachen kultureller Tradition, eine Lebendigkeit der Ursprünge. Die Geister der Stadt und eine magische kulturelle Vielschichtigkeit klopften gewissermaßen an die Tür von Stephanie Nilles – und fanden Einlass.
„Murder Ballads“ – auch Nick Cave veröffentlichte vor Jahren ein Album dieses Titels. Mit neuen Erkundungen eines klassischen Subgenres der Balladen-Tradition. Ein Song-Genre, das sich traditionell – in gedruckter oder mündlich überlieferter Form – mit realen oder fiktiven Mordgeschichten und ihren Akteuren befasst. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts wurden solche Balladen in gedruckter Form verbreitet. Heute gibt es zahlreiche Varianten der klassischen Stoffe sowohl in europäischer wie (afro-)amerikanischer Ausprägung. Die amerikanischen Varianten sind nicht selten realitätsnaher und mit inhaltlich reduzierter Wirkungsmacht übernatürlicher Elemente. Doch auch die Besiedlung des amerikanischen Kontinents war gewalttätig. Der „Wilde Westen“ verhalf dem Genre zu neuem Repertoire, mündlich weitergegeben oder nur lokal publiziert.
Stephanie Nilles schreibt in ihren Liner Notes zum neuen Album davon, wie sie das Genre der Mörderballade vor einigen Jahren entdeckte. Die „illegale Seite“ der Jazzhistorie fasziniert sie auch heute, die Bezüge zur Unterwelt, die schillernden Charaktere. Drogen und Prostitution, Politik und Zensur, Armut und Konflikt. Die alte Musik aus „Storyville“, dem alten Rotlichtbezirk von New Orleans, gespielt von mythischen Legenden wie Buddy Bolden oder Jerry Roll Morton, steht exemplarisch für die emotionale Bandbreite des Geschehens auf „Murder Ballads“. Nicht selten in nicht-jugendfreien Zeilen und dem anrüchigen Flair der Unterwelt. Humor und Tragik gehen Hand in Hand und liefern einen intensiven Gegenentwurf zur vagen Gefühlswelt vieler Pop-Produktionen. Nicht die Selbstbezogenheit eines Interpreten wird für Stephanie Nilles in der Tradition der Mörderballade demonstriert. Es geht um die Geschichten selbst, nicht um die Nabelschau zeitgenössischer Singer/Songwriter-Ansätze. Es finden sich so neue Geschichten, solche mit akutem Realitätsbezug. Virtuos konstruiert, mit Protagonisten und Gegenspielern, mit einem situativem Kontext und mit Plots.
Die persönliche Geschichte der heute 32jährigen Stephanie Nilles spielte bislang in vier Städten der USA: Chicago – Cleveland – New York – New Orleans. Geboren wurde sie in Wheaton/Illinois, einem Vorort von Chicago. Musik spielte eine wichtige Rolle in der Familie – vor allem eigenes Musizieren als Teil der emotionalen „Grundausbildung“, wie Stephanie sagt. Von Pete Seeger bis Beatles, von Pink Floyd bis Mozart. Mit fünf beginnt Stephanie, Klavier zu spielen, später auch Cello. Sie wird klassische Musikerin, macht ein Klavierexamen am Cleveland Institute Of Music. „Ich spielte in internationalen Wettbewerben, übte allein in einem Raum sieben, acht Stunden am Tag. Doch langsam dämmerte es mir, dass ich unglücklich war,“ sagt sie heute. „Ich fühlte immer mehr, dass die Musik, die ich spielte, keinen Bezug zur Welt um mich herum hatte. Realistisch betrachtet, blickte ich auf die Erwartung dauerhafter Arbeitslosigkeit. Ich wurde es einfach leid, achtzig Prozent meiner Zeit damit zu verbringen, zweihundert Jahre alte Meisterwerke zu perfektionieren.“ Stephanie trifft mit Anfang zwanzig eine konsequente Entscheidung: Sie steigt komplett aus der Musik aus.
Stephanie Nilles geht allein nach New York, taucht ein in die alternative Musik-Szene der Stadt. Sie jobbt und besucht Clubs im East Village, hört dort die jungen Wilden. Sie trifft auf viele Jazzmusiker, die wie sie ehemals Studenten der klassischen Musik waren. Die wechselhafte musikalische Qualität des Angebots ermutigt sie, eigene Texte zu vertonen. Über „poetry slams“ kann sie ihre Frustrationen als Performerin überwinden: „Ich konnte in New York endlich meine Angst vor dem Komponieren überwinden, die in mir installiert worden war durch das jahrelange Üben klassischer Kunstwerke, von denen ich wusste, dass ich sie nie würde gut genug reproduzieren können.“ Über „open mic“-Abende findet Stephanie zurück auf die Bühne, hinein in etwas neues Eigenes. Eine Songwriterin und eine Performerin wird geboren, sie geht auf Tour und lebt dafür. Unterwegs im Auto quer durch die Vereinigten Staaten, in Bars und Clubs, in Wohnzimmern und Coffee-Shops. Im Januar 2011 feiert sie ihr deutsches Live-Debut mit mehreren Auftritten beim Bremer Festival „Women In (E)-Motion“. In den Folgejahren kehrt sie mehrere Male zurück nach Europa.
„Murder Ballads“ entstand vorwiegend an diversen improvisierten Aufnahme-Orten in New Orleans, produziert mit einem kleinen Kreis von Musikerfreunden „in Echtzeit“. Auch die Geräusche der Umgebung sind Teil der Aufnahmen. Man wollte keine konventionelle Studioumgebung. Im Mittelpunkt stehen Stimme und Tastenspiel von Stephanie Nilles. Jesse Morrow spielt Kontrabass, Paul Thibodeaux ist der Schlagzeuger. Stephanie Nilles hat mit „Murder Balladas“ ein dunkles Album gemacht. Ein wichtiges Album für unsere Gegenwart. Stephanie Nilles: „Obwohl die Thematik auf diesem Album extrem düster ist, gibt es auch eine wundersam-kindliche Verspieltheit in dieser Musik. Die Absurdität menschlicher Brutalität ist fast zufälligerweise gepaart mit einem Moment der Verwunderung, einem eigentümlichen Zauber und einer komischen Auflockerung. Diese Haltung ist für mich die Quintessenz von New Orleans.“
Die Songs:
„Bait + Switch“ (S. Nilles)
Ein Song mit Bezug auf eine berühmt-berüchtigte Wahlkampf-Rede des ex-Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney („47 % speech“). SN singt hier in der Rolle eines Menschen, der nach konservativer Ideologie nur ein Schmarotzer staatlicher Leistungen ist.
The Slaughterhouse (S. Nilles)
Eine Metapher für Cyber-Kriminalität. „O America / That ancient / vacant / microsoft of Nations / outdated / and obsolete…..“
The Murder Ballad(Jerry Roll Morton)
13-Minuten-Destillat einer halbstündigen Performance. SN musikalisch unterwegs in „Storyville“, einem nicht-jugendfreien Raum aus Poetry und Jazz, Sex und Gewalt
John Waters(S. Nilles)
Ein Song als Antwort auf das Massaker an zwanzig Kindern in der Sandy Hook Elementary School in Connecticut 2012
The Majectic’s On Fire (S. Nilles)
Waffengewalt zwischen Polizei und Bürgern heute, Teil 1
The Deportee(S. Nilles)
Der Tod an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, geduldet von Behörden. Flüchtlinge versuchen seit Jahr und Tag, den gefährlichen „All-American Canal“ zu durchschwimmen. Der Kanal verläuft parallel zur Grenze von Mexiko und Kalifornien. Mehr als 500 Tote seit 1997.
Here Comes Cohn (S. Nilles)
Richard Cohn ist eine literarische Figur aus Hemingways “Fiesta”
A To Z Blues (Jody Edwards/Ray Arthur)
Humor, Betrug und angedrohte Bestialität im klassischen Delta Blues – SN singt Blind Willie McTell
Open Season(S. Nilles)
Waffengewalt zwischen Polizei und Bürgern heute, Teil 2, Jagdsaison auf amerikanische Ideale – auf Minderheiten, Arme, Kinder. Der Widerstand im Herzen der Sängerin
War Crimes(S. Nilles)
Tod und Krieg
Expired Like An Old Driver’s Licence(S. Nilles)
Subjektive Erschöpfungszustände in New Orleans “post-Katrina”
The Dirty Dozen(Trad / adap. Jerry Roll Morton)
Neuinterpretation eines Songs aus Mortons “Library Of Congress Recordings” (1938), seiner persönlichen Erinnerung der Geburtsjahre des New Orleans Jazz. Morton war auch Pianist in Bordellen, hatte ein großes Repertoire nicht-jugendfreien Materials… keine Mörderballade… aber ein Kristallisationspunkt.